52 % der in Deutschland von Inkontinenz betroffenen Menschen gaben in einer von HARTMANN unterstützten Untersuchung an, dass Inkontinenz ein absolutes Tabuthema sei. Das muss aber nicht sein. Denn wenn sich die Menschen in der Lage fühlten, sich über ihre Inkontinenz gegenüber anderen zu öffnen, ist es für sie sehr hilfreich. Es bedarf also mehr Offenheit in der Gesellschaft zu diesem Thema, zusammen mit viel mehr Beratung und Aufklärung über den Zustand und die verfügbaren Produkte.
Eine wichtige Rolle übernehmen dabei Apotheken und Sanitätshäuser mit ihrer Beratungskompetenz. Mit einer empathischen und zugleich fachlich kompetenten Beratung können sie sich differenzieren und Marktchancen nutzen.
Wie Beratung und Aufklärung in der Praxis aussehen sollten, erklärt Prof. Dr. Daniela Schultz-Lampel, Fachärztin für Urologie und Spezielle Urologische Chirurgie, Direktorin des Kontinenzzentrums Südwest, Schwarzwald-Baar Klinikum sowie Mitglied des Expertenrats und der Zertifizierungskommission für Kontinenz- und Beckenbodenzentren der Deutschen Kontinenz Gesellschaft, im Interview.
Frau Prof. Dr. Schultz-Lampel, Leistungserbringer wie Apotheken und Sanitätshäuser sind vertraglich dazu verpflichtet, eine Beratung oder Anamnese mit den Betroffenen durchzuführen, bevor sie Patienten mit Produkten versorgen. Inwiefern kann eine gute Beratung bei Betroffenen für ein sicheres Gefühl beim Umgang mit der Inkontinenz sorgen?
Schultz-Lampel: Mit der Anamnese sollen Apothekenmitarbeiter Details zu den Symptomen herausfinden, um optimal beraten zu können. Dabei sollten sie erfragen, wie ausgeprägt die Inkontinenz ist und in welchen Situationen sie auftritt. So kann ein geeignetes Produkt empfohlen und entsprechende Vorlagen und Stärken angeboten werden. Für die Betroffenen kann es hilfreich sein, wenn sie die Produkte in die Hand nehmen können. Es ist wichtig, richtig aufzuklären und den Umgang mit den Produkten zu erläutern. Dazu muss Personal entsprechend geschult werden.
Wie sollte ein gutes Beratungs-/ oder Anamnesegespräch ablaufen?
Diskretion ist sehr wichtig. In Apotheken oder Sanitätshäusern existieren Beratungsnischen, in denen ein vertrauliches Gespräch stattfinden kann. Auch eine telefonische Beratung kann sinnvoll sein, bei der Betroffene nicht präsent sein müssen. Sie müssten erst zur Auswahl der Produkte und zum Anpassen persönlich erscheinen. Es kann außerdem sinnvoll sein, dem Betroffenen einen kleinen Fragebogen an die Hand zu geben. So wird dieser sich selbst darüber bewusst, wann und in welchen Situationen die Inkontinenz auftritt. Diese Einschätzung ist für viele Betroffene schwierig. Das Ausfüllen eines Fragebogens hilft beiden Seiten: Der Berater kann so besser identifizieren, welches Produkt das Beste für den Kunden ist.
Welche Tipps können Sie den Beratenden im Umgang mit den Betroffenen auf den Weg geben?
Die wichtigsten Punkte sind Freundlichkeit, Verständnis und Diskretion. Auch wenn wir Inkontinenz aus der Tabu-Zone holen möchten, ist das Thema für Betroffene immer noch unangenehm. So sollte ihnen mit viel Feingefühl begegnet werden. Routiniertes Vorgehen, beispielsweise mithilfe von standardisierten Fragebögen, kann außerdem mehr Sicherheit in der Beratung geben.
Was muss der Beratende wissen, um ein qualitativ gutes Beratungs-/ Anamnesegespräch zu führen?
Eine Grundkenntnis über Inkontinenz als gesundheitliches Problem sollte gegeben sein – sowohl zur Harn- als auch Stuhlinkontinenz. Auch die Produkte sollten bekannt sein. Bei wie viel Flüssigkeit ist noch Sicherheit gegeben? Wann müssen Produkte gewechselt werden? Gibt es Unterschiede bei Produkten für Männer und Frauen oder für Gehandicapte? Hier bedarf es einer guten Schulung der Berater.
Wie kann man als Beratender das Beratungs-/ Anamnesegespräch für den Betroffenen angenehm gestalten?
Diskretion und eine etwas abgetrennte Beratungsstelle sind wichtig. Ein Sitzplatz, der mit entsprechenden Mustern der Produkte ausgestattet ist, die sich Betroffene dann in Ruhe ansehen können, ist wünschenswert. Dem Betroffenen sollte das Gefühl vermittelt werden, dass Inkontinenz nichts Schlimmes oder Ungewöhnliches ist, sondern etwas ganz Normales. Sätze wie „Das haben viele“, „Sie dürfen das auch haben“, „Ich helfe Ihnen“ können Vertrauen schaffen. Der Betroffene sollte mit dem Gefühl aus der Beratung heraus gehen, dass ihm eine Lösung aufgezeigt wird und es aber auch andere Lösungen gibt. Apotheken- oder Sanitätshausmitarbeiter sollten unterschiedliche Produkte aufzeigen. Zudem sollten Berater darauf hinweisen, dass Betroffene ihre Inkontinenz mit einem Arzt abklären sollten, sodass ihre Situation im besten Fall verbessert werden kann.